Offener Brief an den Bundesrat bezüglich der negativen Wahlbeteiligung seit den späteren 1970-er Jahren.



Sehr geehrte Bundespräsidentin, Frau Sommaruga.
Sehr geehrte Damen und Herren, Bundesräte und Bundesrätinnen, Frau Amherd, Herr Berset, Herr Cassis, Frau Keller-Sutter, Herr Maurer, Herr Parmelin, Frau Sommaruga.

In der Schweiz weiss man nicht so genau, wohin man sich wenden soll, wenn man ein Problem mit dem Grossen und Ganzen hat, was die Schweizerische Eidgenossenschaft betrifft. Es gibt hier tradionellerweise keinen König und kein anderes souveränes Staatsoberhaupt, weil die politische Macht im Land möglichst gut und fair verteilt sein soll. Das ist ein hehrer Gedanke - das einzige Problem dabei ist: dass zwar niemand allzu viel Macht, dass aber auch niemand allzu viel Verantwortung hat. Letztlich wird in der Schweizer Politik bzw. in der Direkten Demokratie eigentlich das Volk als Souverän bezeichnet. Das Volk kann man schlecht anschreiben, weil es keine Post- und/oder Mailadresse hat. Ich bin daher gezwungen, mich in meinem Anliegen, trotzdem an die oberste Exekutive zu wenden: an die Bundespräsidentin und den Bundesrat.

Ich möchte in diesem offenen Brief, welcher auch auf meiner Website erscheint (https://www.schepart.ch), auf die unwürdige Situation der Wahlbeteiligung bei den eidgenössischen Wahlen* eingehen, die seit den späteren 1970-er Jahren unter 50% (!) liegt, auf diese Situation aufmerksam machen und dies besprechen. Seit der Einführung der Proporzwahl fiel die Wahlbeteiligung von 80,4% (1919) auf 45,1% (2019). Der aktuelle Wert bedeutet sogar einen neuerlichen Rückschritt gegenüber den letzten vier Wahlen (2003-2015) auf das Niveau von 1999 (d.h. es ist der tiefste Wert in den 2000-er Jahren - der absolute Tiefstwert lag 1995 bei 42,2%). Zu den früheren Majorzwahlen (1848-1917) habe ich keine genauen Zahlen, nur die Angabe, dass die Wahlbeteiligung in jener Zeit teilweise schon unter 45% lag. Dies ist natürlich keine Entschuldigung für die heutigen Ergebnisse, sondern es entspricht einer Unterlassung, dass man die Problematik, die sich aus einem solchen Wahlverhalten ergibt, nicht schon sehr viel früher erkannte. Dass dies damals für die Politik und die Medien noch uninteressanter war als heute, liegt vermutlich daran, dass diese früheren Majorzwahlen in der damaligen Konstellation noch viel weniger Überraschungen/Unterschiede boten als die heutigen Wahlen (die Schweiz war lange - eigentlich während der gesamten Majorzära - zumindest regierungsmässig so etwas wie ein erweiterter Einparteienstaat). Damals wusste man auch noch gar nicht, dass in der schweizerischen (Halb-) Direkten Demokratie eine Beteiligung bis über 80% möglich ist. Heute wissen wir das, und wir sehen die Zahlen in anderen Demokratien der Welt, die durchwegs höher liegen als in der Schweiz. Zusammen mit den USA liegt die Schweiz bei internationalen Vergleichen jeweils in den Schlusspositionen. Eine Wahlbeteiligung unter 50% ist auch bei weltweiten Erhebungen selten.

* Wahlbeteiligung bei eidgenössischen Wahlen 1848-1917 (Majorzwahl): zwischen 45-63%. Wahlbeteiligung (in Prozent, seit 1919 [Proporzwahl]): 1919: 80,4. - 1922: 76,4. - 1925: 76,8. - 1928: 78,8. - 1931: 78,8. - 1935: 78,3. - 1939: 74,3. - 1943: 70,0. - 1947: 72,4. - 1951: 71,2. - 1955: 70,1. - 1959: 68,5. - 1963: 66,1. - 1967: 65,7. - 1971: 56,9. - 1975: 52,4. - 1979: 48,0. - 1983: 48,9. - 1987: 46,5. - 1991: 46,0. - 1995: 42,2. - 1999: 43,3. - 2003: 45,2. - 2007: 48,3. - 2011: 48,5. - 2015: 48,5. - 2019: 45,1.

Natürlich müssten wir hier auch über kantonale und kommunale Wahlen und Abstimmungen sprechen, die nationale Wahl ist aber ganz sicher das Aushängeschild und der Grundpfeiler einer staatlichen Demokratie bzw. einer demokratischen Staatsordnung (dies gilt offenbar sogar in einem supranationalen Kontext, wo zwar die supranationale Organisation über der nationalen steht, diese aber im Gesamtkontext trotzdem das Zentrum bildet [zumindest in einer supranationalen Organisation, welche sich nicht absolutistisch orientiert betrachtet]). Die Wahlpflicht gibt es in der Schweiz auf kantonaler Ebene. Nachdem jedoch verschiedene Kantone eine frühere Wahlpflicht abgeschafft haben, ist derzeit eine solche nur noch im Kanton Schaffhausen gegeben (Wahlbeteiligung 1999* nach Kantonen: 1. Schaffhausen 61,9% [Wahlpflicht mit symbolischer Geldstrafe], 2. Zug 53,5%, 3. Luzern 52,9%, 4. Wallis 52,7%, 5. Appenzell Innerrhoden 51,5%, 6. Appenzell Ausserrhoden 51,2%, 7. Solothurn 50,0%, 8. Tessin 46,7%, 9. Basel-Stadt 47,4%, 10. Nidwalden 46,0%, 11. Zürich 45,1%, 12. Thurgau 44,6%, 13. St. Gallen 43,6%, 14. Aargau 42,0%, 15. Basel-Landschaft 41,8%, 16. Freiburg 41,2%, 17. Bern 41,1%, 18. Schwyz 41,0%, 19. Jura 40,9%, 20. Graubünden 40,0%, 21. Genf 36,3%, 22. Uri 36,3%, 23. Neuenburg 34,0%, 24. Waadt 31,5%, 25. Glarus 28,2% [Obwalden mit stiller Wahl (keine Angabe)]). Auf kantonaler und kommunaler Ebene sowie bei Abstimmungen allgemein kann man verschiedener Meinung sein, bei nationalen Wahlen - meiner Meinung nach - dagegen nicht (denn schliesslich geht es hier - mit der Festlegung der entsprechenden Pflichten - um den Ausdruck des Willens dafür, einen ordentlichen Staat zu begründen).

* Ich verwende hier je die Referenzzahlen bezogen auf das Jahr 2000 (nicht die aktuellen Zahlen - der Unterschied ist nicht relevant).

Die Zahl der 50% ist in der demokratischen Politik so etwas wie eine magische Zahl, denn sie scheidet Mehrheiten von Minderheiten. Diese auszumachen, darum geht es ja bei Abstimmungen (und auch etwa bei Bundesratswahlen). Wir können gut einsehen, warum diese Zahl so bedeutend ist in diesem Bereich der demokratischen Politik. Wir können uns nämlich die Frage stellen, bei welcher Zahl denn die geringe Wahlbeteiligung ein echtes, grosses bis existenzielles Problem für die Demokratie wäre - mit letztlich nicht mehr tragbaren Folgen. Wäre dies der Fall bei einer Wahlbeteiligung von 45%? 40%? 35%? 30%? 25%? 20%? 15%? 10%? 5%? 4%? 3%? 2%? 1%? 0%? Da wir diese Frage so nicht beantworten können, kommen wir letztlich logischer- und rechnerischerweise immer wieder auf die 50%-Marke zurück. Das ist die Marke, die es rechnerisch, logisch und moralisch in einer (Direkten) Demokratie zu beachten gilt. Je deutlicher der Wert über dieser Marke liegt, desto besser, darunter geht aber eben eigentlich nicht. In den letzten Jahren hat man - mit ein paar wenigen, kleinen Ausnahmen - auch praktisch nie etwas gehört zu diesem Thema: weder aus der Politik, noch von den Medien. Eine eigentliche oder grössere Diskussion zu diesem Thema existiert in der Schweiz praktisch nicht. Eine kleine Cowboy-Weisheit besagt: «If you're ridin' ahead of the herd, take a look back every now and then to make sure it's still there with ya.»

Wie sieht der internationale Vergleich aus? Die Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten international allgemein zurückgegangen und in der Schweiz leider eben sogar unter die 50%-Marke gefallen. Dazu: eine bekannte US-amerikanische Studie von Politik- und Sozialwissenschaftler Mark N. Franklin ("Electoral Engineering and Cross National Turnout Differences", British Journal of Political Science, 1999 - basierend auf Katz [1996] sowie Mackie und Rose [1992]). Durchschnittliche Wahlbeteiligung in freien Wahlen des Unterhauses in 25 (westlichen) Staaten, 1960-1995 (in Prozent):

1. Australien 95% (14 Wahlen), 2. Malta 94% (6), 3. Österreich 92% (9), 4. Belgien 91% (12), 5. Italien 90% (9), 6. Luxemburg 90% (7), 7. Island 89% (10), 8. Neuseeland 88% (12), 9. Dänemark 87% (14), 10. Schweden 87% (13), 11. Griechenland 86% (11), 12. Deutschland 86% (9), 13. Niederlande 83% (7), 14. Norwegen 81% (9), 15. Israel 80% (9), 16. Finnland 78% (10), 17. Portugal 79% (9), 18. Kanada 76% (11), 19. Frankreich 76% (9), 20. Grossbritannien 75% (9), 21. Irland 74% (11), 22. Spanien 73% (6), 23. Japan 71% (12), 24. USA 54% (9), 25. Schweiz 54% (8).

Die Schweiz lag also in dieser Zeitspanne sogar noch über 50% und trotzdem am Schluss der Rangliste (und nur deswegen nicht alleine am Schluss, weil die älteren Resultate - vor den 1970-er Jahren - noch etwas besser waren). Das Ergebnis wird nicht viel besser, wenn man weitere Staaten der Welt dazu nimmt wie Studien des International Institute for Democracy and Electoral Assistance IDEA zeigen (die Schweiz steht auch in diesen Ranglisten in den hinteren Positionen).

Eine eigene kleine Erhebung von 40 Staaten ergab folgende Werte zum Zeitpunkt des historischen Jahres 2000 (inkl. aktuellem Status der Wahlpflicht [im Jahr 2020]):

1. Australien 95,0% (1998 [Wahlpflicht (Geldstrafe - bei mehrfachem Vergehen auch Gefängnisstrafe möglich)]), 2. Belgien 90,6% (1999 [Wahlpflicht (Geldstrafe, seit 2003 nicht mehr verhängt - in seltenen Fällen Streichung aus dem Wählerregister, also: Entzug des Wahlrechts)]), 3. Südafrika 89,3 (1999), 4. Türkei 87,1% (1999 [Wahlpflicht (Geldstrafe aufgehoben)]), 5. Liechtenstein 86,8% (1997 [Wahlpflicht (Geldstrafe nicht durchgesetzt)]), 6. Luxemburg 86,5% (1999 [Wahlpflicht (Geldstrafe - seit 1964 keine mehr verhängt)]), 7. Dänemark 85,6% (1998), 8. Island 84,1% (1999), 9. Italien 82,5% (1996 [Wahlpflicht (Nichtwahl hat faktisch keine Konsequenzen mehr)]), 10. Deutschland 82,2% (1998), 11. Schweden 81,4% (1998), 12. Österreich 80,4% (1999 [Wahlpflicht schrittweise aufgehoben zwischen 1982 und 2004]), 13. Brasilien 78,9 (1998). 14. Israel 78,7% (1999), 15. Norwegen 78,3% (1997), 16. Spanien 77,4% (1996), 17. Irland 76,5% (1997), 18. Griechenland 76,3% (1996 [Wahlpflicht (Sanktionen 2001 abgeschafft)]), 19. Rumänien 76,0% (1996 - erster Wahlgang 76,0%, zweiter Wahlgang 75,9%), 20. Tschechien 74,0% (1998), 21. Slowenien 73,7 (1996), 22. Niederlande 73,4% (1998 [Wahlpflicht aufgehoben 1970]), 23. Kroatien 68,9% (1995), 24. Frankreich 67,9% (1997 - erster Wahlgang: 67,9, zweiter Wahlgang 71,1), 25. Grossbritannien 71,5% (1997), 26. Kanada 67,0% (1997), 27. Finnland 65,3% (1999), 28. Mexiko 64,0% (2000), 29. Bulgarien 62,9% (1997), 30. Russland 61,7% (1999), 31. Portugal 61,1% (1999), 32. Indien 60,0 (1999), 33. Japan 59,7% (1996), 34. Serbien 57,5% (1997), 35. Ungarn 56,3% (1998 - erster Wahlgang 56,3%, zweiter Wahlgang 57,0%), 36. Polen 47,9% (1997), 37. USA 45,3% (1998), 38. Schweiz 43,2% (1999) - Ägypten, China: keine Zahl gefunden. Alles ohne Gewähr (ich habe die Zahlen und Fakten aus der Wikipedia entnommen). Doch: genug der Zahlen, die Fakten sind mehr als nur klar und deutlich.

Was bedeutet diese Wahlabstinenz rein technisch betrachtet? Sie bedeutet, dass wir heute von über 50% der Leute in der Schweiz, die wahlberechtigt sind, nicht wissen, was sie wählen würden, wenn sie wählen würden. Das ist ein politisch unwürdiger Zustand für eine Demokratie, wenn nicht sogar ein gefährlicher Zustand. Denn wir wissen nicht, wie diese Leute, die sich grösstenteils nicht für Politik zu interessieren scheinen, in speziellen Lagen und Situationen politisch reagieren würden (und solche speziellen Lagen und Situationen können in der Welt sehr viel rascher eintreten, als man gemeinhin denkt [wir haben es gerade im Jahr 2020 mit der Coronakrise wieder einmal deutlich gesehen und erlebt]). Nicht zuletzt deswegen sollte eine Regierung ein Interesse daran haben, das Wahl- und Abstimmungsverhalten der Bevölkerung so gut wie möglich zu kennen und auch analysieren zu können, und das kann man nur dann, wenn sich die Leute bei den Wahlen zu diesem Thema äussern und ihre Stimme dazu abgeben. Wenn die Leute nicht daran gewöhnt sind, bei normalen Wahlen teilzunehmen, könnten sie in kritischen Lagen und Situationen vielleicht viel rascher zu Protestwählern mit fragwürdigen Forderungen werden - zumindest sollte, wer ein demokratisches Volk führt, diese Möglichkeit bedenken. Was bedeutet diese Wahlabstinenz moralisch betrachtet? Sie bedeutet auch, dass im grösseren Teil des Volkes eine gewisse bis beträchtliche Gleichgültigkeit oder sogar Ablehnung gegenüber den parlamentarischen Wahlen besteht, und damit gegenüber dem Parlament als solchem, und der Frage, wer in Vertretung des Volkes über die Gesetze bestimmen soll, und wer die Bundesräte und die Bundesrichter einberuft (diese speziellen Aufgaben und Kompetenzen des Parlaments sind auch der letztliche Hauptgrund dafür, dass es keinerlei moralische Ausreden gibt [und auf diese werde ich daher hier auch gar nicht eintreten*]). Das Volk weigert sich in der Mehrheit nicht nur, die demokratischen Institutionen erkennbar zu stützen, sondern es äussert quasi, wenn keine Ablehnung, so doch ein Unverständnis gegenüber dem System (denn natürlich liegt die Wahlabstinenz weder im ehrlichen Interesse noch in der ehrlichen Absicht des Systems).

* Zu einem der Hauptargumente, wonach man in der Schweiz auch abstimmen könne und sich vermutlich deswegen nicht so viele Leute an den Wahlen beteiligen würden, kann ich nur sagen: dass an den Abstimmungen ja auch nicht mehr Leute teilnehmen als an den Wahlen. Stimmbeteiligungen über 50% sind die Ausnahme, nicht die Regel (erwähnenswert ist aber immerhin doch, dass es tatsächlich - je nach Thema - Stimmbeteiligungen gibt, die über der Wahlbeteiligung liegen). Meiner Meinung nach haben Wahlen und Abstimmungen in dieser Frage wenig miteinander zu tun. In den Abstimmungen geht es um konkrete Sachfragen, in den Wahlen aber um die Gunstbezeugung für das Parlament und um dessen Zusammensetzung. Stimmbeteiligung bei Abstimmungen in den 2010-er Jahren (2011-dato). 2010 (3 Abstimmungen [in Prozent]): 45,5 - 35,8 - 52,9. - 2011 (1): 49,1. - 2012 (4): 45,1 - 38,5 - 42,4 - 27,6. - 2013 (4): 46,6 - 39,5 - 47,0 - 53,6. - 2014 (4): 56,2 - 55,9 - 47,0 - 49,9. - 2015 (2): 42,1 - 43,5. - 2016 (4): 63,3 - 46,8 - 43,0 - 45,4. - 2017 (3): 46,8 - 42,9 - 47,1. - 2018 (4): 53,9 - 34,6 - 37,5 - 48,3. - 2019 (2): 37,9 - 43,7. Das Problem ist also: dass die Leute nicht wählen und auch nicht stimmen gehen. Ob man auch eine Stimmpflicht erheben sollte, ist eine andere Frage: mir scheint die Wahlpflicht aus den genannten Gründen viel bedeutender, und daher beschränke ich mich hier auf diese (immerhin gibt es auch wirklich Themen, welche den Einen oder die Eine mehr interessieren und betreffen als die Andere und den Anderen - von den Wahlen sind aber ganz sicher alle gleich bedeutend betroffen).

Dieses Unverständnis gegenüber den politischen Pflichten führt dazu, dass sogar eine Legitimationsfrage aufkommen kann, indem die Wahlbeteiligung eben zeigt, in welchem Mass den demokratischen Institutionen insgesamt überhaupt Gunst bezeugt wird. Es gibt keinen anderen verlässlichen Wert dazu. In diesem Problem der Legitimation kann insofern beschwichtigt werden, als dass das System, dessen Institutionen und dessen Weiterführung durch Initiative und Abstimmung verändert werden kann. Das Volk hat diese Möglichkeit grundsätzlich und/oder theoretisch, vermutlich auch praktisch (und wenn kein politischer Willen zur Veränderung zu sehen ist, kann man daher annehmen, dass das Volk dem System grundsätzlich zustimmt) - aber das ändert nichts daran, dass Parlamentswahlen dazu da sind, dem System, welches man ja eigentlich so nicht in Frage stellt, die Gunst auch aktiv zu erweisen und diese klar und deutlich zu bezeugen. Trotz der Beschwichtigung stellt sich die Frage der Legitimation politphilosophisch auf jeden Fall. Eine wahre Demokratie geht, wiewohl die primären Entscheidungen an der Urne gefällt werden, natürlich weit über den eigentlichen Urnengang hinaus und muss tief im Volk und im System verankert sein. Auf die Gründe, welche dazu führen, dass das Schweizer Volk eine solche Gleichgültigkeit gegenüber den Parlamentswahlen zeigt, möchte ich hier gar nicht spekulieren, denn es gibt eigentlich ebenso wenig (gute) Gründe wie Ausreden. Mit dem Unverständnis wird letztlich das gesamte demokratische System in Frage gestellt, inkl. den Volksrechten, notabene, die ja nicht unabhängig vom System bestehen, sondern bloss im Verbund mit demselben. Diesem Volk und System - inkl. den drei Stufen der Bildung (Familien, Schulen, Medien) - fehlt es also ganz eindeutig an demokratischer Moral, und das ist das Mindeste, was man über die heutige Situation sagen kann.

Warum ist die Pflicht des Wählens in einer Demokratie, auch in einer Direkten Demokratie, so wichtig und bedeutend? Das Parlament - entwickelt in England und Frankreich - ist die Grundinstitution (und die Grundbastion) der Demokratie. Es ist der Vermittler zwischen dem Volk und der Regierung, damit nicht entweder die Regierung absolut (alleine) regiert, oder aber eine Situation entsteht, in welcher das Volk alleine (absolutistisch) regieren müsste. Dies ist rein technisch praktisch unmöglich, weil man erstens das Volk ja nicht zu jeder Zeit über alles abstimmen lassen kann, da dies viel zu aufwändig wäre - es wird also, allen direktdemokratischen Romantikern zum Trotz, immer eine gewisse politische Lücke zwischen Volk und Regierung gegeben sein, und es ist auch kein legislatives Volk ohne Exekutive und Judikative denkbar, notabene - und auch: weil zweitens jemand das Ganze organisieren muss (es ist keine Politik ohne [politische] Organisation denkbar). Die Trennung der verschiedenen Gewalten in der Politik stammt vom englischen Philosophen John Locke (Legislative/Exekutive) und vom französischen Philosophen Charles de Montesquieu (Legislative/Exekutive/Judikative). Locke meinte: "[...] The first and fundamental positive law of all commonwealths is the establishing of the legislative power; as the first and fundamental natural law, which is to govern even the legislative itself, is the preservation of the society, and (as far as will consist with the public good) of every person in it. [...] This legislative is not only the supreme power of the common-wealth, but sacred and unalterable in the hands where the community have once placed it [...]." (John Locke: "Two Treatises of Government: In the Former, The False Principles, and Foundation of Sir Robert Filmer, and His Followers, Are Detected and Overthrown. The Latter Is an Essay Concerning The True Original, Extent, and End of Civil Government", Second Treatise, Chapter XI., Of the Extend of the Legislative Power [1689]). Selbst wenn das Volk über das Parlament gestellt wird, wie es in der Direkten Demokratie der Schweiz der Fall ist, bleibt das Parlament im Zentrum der Politik - etwas anderes ist, in einem vernünftigen demokratischen Staatsgebilde kaum denkbar. Rein theoretisch dazu auch dies: würde das Volk alleine die Legislative bilden, wäre es nicht mehr souverän, weil es dann der Exekutive und der Judikative entgegenstehen würde, und würde es auch diese bilden, so würde es eine neue absolutistische Form begründen, in welcher es keine Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative mehr gäbe (dies wäre dann quasi eine absolutistische Herrschaft der Mehrheit - eine 'Demokratur' - mit allen unberechenbaren Folgen, welche so etwas haben könnte: solches liegt nicht in den Absichten einer wahren Demokratie; es gibt also offenbar gute Gründe dafür, warum ein demokratisches System ein gut ausgeklügeltes und austariertes - und auch abgesichertes - System bilden muss).

Ich habe die Problematik der negativen Wahlbeteiligung erstmals in meinem politischen Buch "Politika 2000+" (2016) behandelt und dort eine Wahlpflicht für Schweizer sowie ein Wahlrecht für im Inland lebende Ausländer vorgeschlagen. Ich habe Ihnen ein Exemplar der fehlerhaften ersten Auflage zukommen lassen sowie auch ein Exemplar der verbesserten zweiten Auflage (ferner habe ich diese auch den bedeutendsten Parteien der Schweiz zukommen lassen). Sie sollten also meine politischen Postulate bereits kennen. Dasselbe gilt für die Presse, die ich mehrfach angeschrieben habe. Trotzdem habe ich vor den Wahlen 2019 keinerlei Bestrebungen des Bundesrats, der Politik und/oder der Medien gesehen, welche darauf ausgerichtet gewesen wären, die Wahlbeteiligung zu verbessern.

Der langen Rede kurzer Sinn: ich möchte den Bundesrat dazu auffordern, mehr zu tun, um eine bessere (Wahl-) Beteiligung der Schweizer an der (Direkten) Demokratie zu schaffen, sei es durch die Erhebung einer allgemeinen Wahlpflicht im Gesetz oder durch eine bessere Information und Kommunikation bezüglich der demokratischen Einstellung und des demokratischen Verhaltens im Schweizer Volk, so dass dieses eine Wahlpflicht initiieren oder das allgemeine Wahlverhalten sonst verbessern bzw. anpassen kann. Eine gesetzliche Pflicht ist in dieser Frage nicht das Ziel (es ist nur ein mögliches bzw. das letzte Mittel), sondern: die moralische Pflicht ist das Ziel. Wenn wir eine Demokratie wollen, dann müssen wir sie stützen und schützen, so gut und so weit dies möglich ist.

Ein letztes bedeutendes Argument, welches ich hier vorbringen möchte, ist vielleicht ein bisschen philosophischer (und naturrechtlicher) Art. Ich denke nämlich, dass die Menschen, die nicht für ihre Pflichten einstehen, auch nicht für ihre Rechte einstehen. Und dies betrifft mich dann direkt als einzelner Bürger, denn: je weniger Menschen sich für die Rechte des Menschen einsetzen, desto weniger wahrscheinlicher ist es, dass diese auch tatsächlich eingesetzt und umgesetzt werden. Es ist also schon daher ein Bewusstsein für die Pflicht zu fordern, um bereit zu sein für das Recht.

(P.S. Unser Recht hat den Mangel, dass es - abgesehen von der Präambel in der Bundesverfassung - ein blosses Rechtssystem ist und kein Rechte- und Pflichtensystem, in welchem auch einfache Pflichten [ohne Strafandrohung bzw. juristische Folgen] festgehalten wären. Würde zum Rechtssystem auch ein Pflichtensystem bestehen, so könnte man eine natürliche und logische [Wahl-] Pflicht einfordern, ohne einen Brief an den Bundesrat schreiben zu müssen. Da wir kein Pflichtensystem kennen, gibt es heute - auf der staatlichen Ebene - weder eine juristische noch eine ideelle Pflicht zur Wahlbeteiligung. Dass die Erhebung einer juristisch relevanten Wahlpflicht einigen administrativen Aufwand mit sich bringt, ist klar, das ist aber kein Grund auf den ideellen Wert der Wahlbeteiligung zu verzichten. Die Behörden sollten im Minimum ein Bemühen erkennen lassen, diesen Aufwand zu tätigen [z.B. durch regelmässige und gut begründete Aufrufe zur aktiven Teilnahme an der Demokratie (solange die Wahlbeteiligung negativ bzw. unbefriedigend ist - auch solches war bisher nicht erkennbar; es kann nicht sein, dass die Wahlbeteiligung über 40 Jahre lang unter 50% liegt und einfach gar nichts geschieht diesbezüglich)]).

Natürlich habe ich in meiner politischen Philosophie noch andere Themen und Anliegen, hier aber geht es nur um das Allergrundsätzlichste, was überhaupt zu beachten ist, wenn man eine Demokratie machen und erhalten will: das Wahlrecht und die Wahlpflicht.


Mit freundlichem Gruss
M. Hirt, Philosoph


(Datiert vom 22.7.2020.)




Korrektur: Die Adresse meiner Website wurde seither, mit dem Wechsel von Hypertext Transfer Protocol (HTTP) zu Hypertext Transfer Protocol Secure (HTTPS), geändert von http://www.schepart.ch auf https://www.schepart.ch - daher habe ich im Brief nachträglich ein 's' (kursiv) eingesetzt.

Anmerkungen. Der Brief wurde von der Bundesverwaltung verdankt. Eine Antwort vom Bundesrat hat es nicht gegeben. Von einer politischen Reaktion kann wohl auch keine Rede sein - ich habe jedenfalls nichts solches gesehen oder gehört im Hinblick auf die Wahlen 2023 (oder überhaupt - und auch die Medien haben das Thema nicht aufgenommen). Die Kritik an der demokratischen Wahlbeteiligung ist natürlich nichts Neues: es gibt sie etwa in der französischen Philosophie schon länger, oder auch etwa beim Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Dass sich schon je ein Philosoph oder ein Kulturschaffender diesbezüglich an eine Regierung gewandt hätte, wäre mir nicht bekannt (auch in den USA lag die Wahlbeteiligung vereinzelt schon unter 50% [dort ist sie sehr wechselhaft]). Es kann auch eine Diskussion darüber geführt werden, ob Wahlen überhaupt sinnvoll sind in einer Demokratie. Es gibt zum Beispiel auch das Losverfahren, durchaus in historischem Kontext - in der griechischen wie der römischen Antike sowie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien (Florenz, Venedig, Genua), u.a. Jedoch müsste für die Bestellung eines Parlaments durch Losverfahren wohl schon eine sehr starke Volksmoral vorausgesetzt werden (in der heutigen Zeit erscheint mir solches nahezu undenkbar [nach heutiger Anschauung m6uuml;ssten ja dann alle Bürger- und B&uumL;rgerinnen gleichermassen in Frage kommen dafür]). In den letzten zehn Jahren ist neben der Schweiz auch Frankreich unter die 50%-Grenze gerutscht - Frankreich 2017: 48,7%, 2022: 47,5%. Ein paar Vergleichszahlen der jeweils letzten Wahlen: Schweden: 84,2% (2022), Niederlande: 81,9% (2017), Deutschland: 76,6% (2021), Österreich: 75,6% (2019), Ungarn: 70,2% (2022), Grossbritannien: 67,3% (2019), Spanien: 66,6% (2023), Polen: 61,7% (2019), Portugal: 51,5% (2022). Das ist sehr unterschiedlich - die Tendenz ist allgemein (weiter) sinkend. Die besondere Problematik in der Schweiz besteht natürlich auch aufgrund des bereits sehr lange anhaltenden Zustandes. Interessant an der Schweizer Situation ist u.a. auch, dass sie nicht neu ist. Die Wahlbeteiligung ist 1919 sehr stark angestiegen auf 80,4%. Dies im Zuge der Einführung der Proporzwahlen. Von der Zeit zuvor habe ich keine genauen Zahlen, nur die Angabe von einer Wahlbeteiligung zwischen 45-63% (1848-1917). Das heisst: es hat in jener Zeit (der Majorzwahlen) schon negative Wahlbeteiligungen gegeben, allerdings wohl nicht (so) dauerhaft und tendenziös. Man liest heute sogar etwa, dass eine tiefe Wahlbeteiligung der Ausdruck von Zufriedenheit sei (ergo: eine hohe ein Zeichen von Unzufriedenheit). Wenn man so argumentiert, würde das ja bedeuten, dass eine möglichst tiefe Wahlbeteiligung anzustreben ist. Das ist natürlich eine problematische bis absurde Argumentation (denn natürlich kann es sich dabei - was viel wahrscheinlicher ist - eben auch ganz einfach um Desinteresse oder Demotivation oder Egoismus und fehlenden Altruismus handeln, wenn nicht sogar um ein fehlendes politisches Grundverständnis [was mich in der Schweiz besonders schlimm dünken würde, da die Schweiz ja keine eigentliche bzw. einheitliche Volksnation ist, sondern eine Nation, die sich rein über die (eidgenössische) Politik definiert]). Im Zusammenhang meines Briefes spielt dies jedoch überhaupt keine Rolle. Für mich spielt es keine grosse Rolle, wie hoch die Beteiligung genau ist, solange sie wenigstens über 50% ist. Eine darunterliegende Wahlbeteiligung ist - wie ich gesagt habe - problematisch für die Rechtfertigung (Legitimation) von Parlament und Regierung. Das ist der springende Punkt - und dazu kann es eigentlich weder zwei Meinungen noch irgendwelche Einwände geben. Natürlich wäre aus diesem Grund eine stabile Wahlbeteiligung von mindestens 55-60% anzustreben (im Minimum aber eben über 50%; und das eigentlich auch bei kantonalen und kommunalen Wahlen [wo man teils noch viel weiter von diesen Zielen entfernt ist]; im Vordergrund stehen aber die nationalen Wahlen [auch als internationale Referenz (für die Direkte Demokratie!) - ein weiteres Problem liegt darin, dass die ausländische Bevölkerung, welche in der Schweiz wohnt und arbeitet, nicht in diesen Zahlen erfasst ist, da sie gar kein Wahlrecht besitzt, d.h. gemessen an der eigentlichen Bevölkerung des Landes ist die Wahlbeteiligung als noch minderwertiger einzustufen (dieses Problem lässt sich nur damit lösen, dass alle, die sich an der Arbeit und am Leben der Gemeinschaft beteiligen, auch an den Wahlen beteiligt werden; schon alleine etwa aufgrund der Untervertretung der Unterschicht im Wahlvolk im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung, was natürlich die Resultate und die Politik eigentlich verfälscht)]). [Im September 2023].


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